Vom Versenken der Île de nilreB
“gründe?
wenn jeglicher boden ständig wegbricht, ist es zeit, fliegen zu lernen.
weg zu brechen.”
(tzu-sa-gen, 2009)
…in der s-bahn befallen mich gedanken:
umfragen ermitteln 14% potentielle afd-wähler in berlin. widerlich. diese rassistenquote liegt sogar über dem bundesbürgerdurchschnitt. fast jeder siebte. tanz den adolf hitler. ich betrachte die mitreisenden und beginne abzuzählen.
eins.
zwei.
drei.
vier.
fünf.
sechs.
sieben.
du also.
ich habe lust, dich am kragen zu packen und dir ins gesicht zu schreien:
“du dummscheißender angstbürger übernimmst die geistige patenschaft für einen im mittelmeer ertrunkenen mitmenschen. ist dir das klar du verpisste kleine rassistenratte? leute wie dich sollte man zum sozialisieren erstmal ohne pass und begrüßungsgeld in eins der länder aussetzen, die unsere neoliberalen weltherrscher ins strukturelle elend gestoßen haben. und wenn du jemals wieder in einem europäischen land auftauchen solltest, hast du hoffentlich kapiert, was menschlichkeit und solidarität bedeutet. sonst kannst du gleich wegbleiben. rassisten aller länder, verpisst euch zur nächsten marsmission!”
…leider zu selten setze ich diese gedanken in die tat um.
gern würde ich an dieser stelle schreiben, was für eine schöne, weltoffene, kommunikationsfreudige stadt voller kreativer freiräume das hier sei oder dergLeichen gemeinplätze mehr.
in den 80gern erschien es mir der einzige erträgliche ort in tschland. die ersten kriegsdienstflüchtlinge aus meiner brd-kleinstadt-umgebung waren in der wiener straße gestrandet. dort herrschte nie, aber lebte: die ANARCHIE. in irgendwie cool betitelten, schwarzgestrichenen kaschemmen mit flackernden neonröhren tranken wir billiges bier und meine berliner freundInnen erzählten mit leuchtenden AUgen von den letzten maiRANdalen am görlitzer bahnhof. unter dem bahnhofsgelände durch – wo jetzt die ökoyuppies ihre verhätschelten kinder & hunde laufen lassen – führte damals noch der pissetunnel, ACHse des bösen.
ich aß meinen ersten falaffel im RISANI, welches übrigens bis heute, mit der gleichen arabischen gastfreundschaft und derselben musik wie damals, seine gäste empfängt. auf der straße sammelten punks für die nächste hausbesetzung in der wrangelstraße. da wurde ein bettlaken aus dem fenster gehängt, auf dem in handgeschriebenen, roten lettern DIESES HAUS IST BESETZT prangte, das A schwarz umkringelt. als am nächsten tag die hundertschaft polizisten dort eindrang, war natürlich NIEmand mehr in dem leeren haus. die punks versoffen die soligelder an der nächsten straßenecke oder investierten in sekundenkleber, den sie nachts in die schlösser der eingangstüren der lokalen konsumtempel knetschten…
DAS war der ort meiner tRäume. ich bewarb mich um KUNST. wurde abgelehnt. so verschlug es mich zur handwerklichen ausbildung woanders hin.
1989 kam der wilde osten. norbert, mein erster freund aus der zukünftigen ex-ddr führte mich durch häuserschluchten mit kriegseinschusslöchern im grauen putz. ich streifte tagelang durch die zerbröselnde und aufregende stadtlandschaft im berliner osten, fotografierte die rissigen, sich überlagernden ladenbeschriftungen. die halbe stadt stand leer & schrie nach freiheit & erfüllung. kunst drang aus allen poren der leerstehenden häuser, remisen, fabrikhallen. du hattest eine idee und nahmst dir den raum dafür, sie in die welt zu stellen. trittleitern führten durch belle-etage-fenster in räume, die für eine nacht der angesagteste ort der stadt waren. wir trafen uns zu R.A.M.M.-performances im tacheles, streiften ziellos durch friedrichshainer nächte und verloren uns auf partys mit schräger russischer musik in unterirdischen katakomben am arkonaplatz. am nächsten tag war alles verschwunden.
es gab 1995 immer noch keinen nützlichen grund, hierher zu ziehen. es gab aber auch keinen grund mehr, das nicht zu tun. ich zog in die ost-west-patchwork-WG nach weißensee. das institut für ‘pataphysik gründete seine erste und einzige terrestrische dependance auf der île de nilreB und machte weiter, wo es niemals aufgehört hatte. du setztest dich in irgendeiner kneipe auf einen freien platz zu wildfremden menschen und begannst ein gespräch. “…und was bist du so für ein sternzeichen?”, fragten die aus dem westen. “…und wo bist du so her?”, fragten die aus dem osten. um den viertelstundenlangen schubladenbildungen zu entgehen, was ich so für ein mensch wäre, antwortete ich ausweichend: “qualle”, “vom dorf”. das half vorübergehend.
eine damalige freundin bürgerte mich im osten ein, als sie sah, wie ich rotglänzende bonbonpapiere glattstrich, weil man die vielleicht mal für irgendetwas brauchen könne. wir lebten in unbeständigen doch selbst gewählten konstellationen. suchten den raum, uns das leben zu nehmen, die klischees in alufolie zu verpacken und in der spree zu versenken, existenznot zum habitus des widerstands zu erklären. wo denn sonst, wenn nicht hier. der rest der republik war grauenhaft verspießbürgert…
wir verpassten es poetisch höhnend, eigene strukturen zu bilden, die sich dem ausverkauf des RAUMS wirksam hätten entgegenstellen können. folgerichtig übernahmen die neoliberalen R-volks-bürger in den 2000ern die MACHT, die wir niemals ergreifen wollten. sie ließen ihre investitionen pastellfarben streichen und verdoppelten solange die herrschenden mieten, bis wir angepisst das langweilig und teuer gewordene mittelberlin dem mittelmaß überließen.
inzwischen befinden wir uns also auf einer der gnadenlosesten baustellen des neokapitalismus. unsere ehemaligen freiräume werden systematisch geräumt, abgerissen, profitabel als eigentumswohnungen verkauft, mit grün lackiertenbaumarktzäunen abgesperrt.
plötzlich schreiben wir nicht mal mehr ANARCHIE UND LEBENSLUST auf unsere fahnen, sondern versuchen, bürgerliche begrifflichkeiten wie MENSCHENRECHTE oder KULTUR oder GRUNDGESETZ gegen die anbrandende dummheit eines neuen nationalismus, eines neuen religionsfanatismus, des ewig alten kapitalismus aufrechtzuerhalten.
die betätigungsfelder verlagern sich. du gehst irgendetwas arbeiten. du bezahlst deine immer teurer werdende miete. du lernst den umgang mit den jeweils aktuellen kommunikationsmedien. du siehst deine kinder davonfliegen. du ackerst in einem kleingarten herum. streitest dich mit gartenzwergen. trennst deinen müll sorgfältig. trennst deine beziehungen sorgfältig. sortierst deine erinnerungen in die dafür bereitgestellten bunten boxen. vermeidest den umgang mit menschen, die dir auf die nerven gehen könnten. grüßt höflich. isst soja-joghurt.
l’île de nilreB erscheint nicht mehr wirklich als ein ort, um in kreativen enthusiasmus auszubrechen. vielleicht ein geeigneter ort, sich zu verweigern. der kultur den streik zu erklären. den verfetteten arschgeigen in die fressezu spucken, die ihre schicke karre in der zweiten reihe parken, um zu fragen, was denn hier los sei.
“nichts ist los hier, fuzzi. bullenwagen klaun und die innenstadt demoliern. geh zurück in deine welt, dich langweilen.”
entgegnest du flappsig & gehst nach hause, in die e-mails schauen, ob demnächst irgendwelche dringlichen tätigkeiten erforderlich werden, hoffentlich nicht bei dem typen, den du soeben beschimpft hast.
bist du schon so tot, wie diese stadt, die auch nur ein zusammenbrechen des systems offenbart?
willst du dabei zusehen, wie sie die île de nilreB, letzte bastion utopias, endgültig versenken?
willst du achselzuckend weg gehen?
welchen weg?
wohin?
zettelmann, île de nilreB, dezember 2016
Photo taken at Karlshorst, Dec 2016
© petrov ahner