Tom Strohschneider, Journalist & Autor

Tom Strohschneider, Journalist & Autor

Tom Strohschneider, Journalist & Autor

Meine Baustelle

Wenn ich ein übergreifendes, immergültiges Wort für diese Stadt finden müsste, dann wäre es: Baustelle. Ich bin in den östlichen Randbezirken aufgewachsen, als diese sich wie ausgekippte Flüssigkeit mit immer neuen Wohngebieten über die letzten dort noch vorhandenen Äcker ergossen. Man konnte wunderbar zwischen Betonplatten und Stahlresten spielen. Später wohnte ich in Stadtteilen, in denen jeden Tag ein neues Haus eingerüstet wurde, alles musste »modernisiert« werden, vieles wurde dadurch nicht schöner, sondern nur glatter. Und teurer. Irgendwann begriff ich, dass Berlin ohne Baustellen gar nicht existieren kann, Bauen ist die Lebensform dieser Stadt, die nicht fertig werden kann und will. Und die Baustellen hervorbringt wie Muttermale – selbst dort, wenn es gar nichts zu bauen gibt. Vor meinem Fenster in Kreuzberg liegt seit ein paar Jahren ein mit Warnplanken eingehegter Schutthaufen, überwacht von einem Baustellenschild. Zu seinem nächsten Geburtstag bringe ich ihm Blumen mit.

Berlin lässt sich auch politisch am ehesten als eine Baustelle betrachten. Hier funktioniert vieles anders, manches wird nur provisorisch errichtet und hat erst später und anderswo Bestand. In Berlin können Leute Politik machen, die in, sagen wir: Bayern, nicht einmal in einen Ortsbeirat gewählt würden. In Berlin können sogar Leute wie ich Chefredakteur werden. Vor ein paar Jahren bin ich zum »nd« zurückgekehrt, eine linke Zeitung, in der zu lange nicht mehr umgebaut worden war. Es wurde meine Baustelle und ist bis heute die mir liebste geblieben. Sie nervt manchmal, aber sie bringt auch wunderbare Momente hervor – wenn du siehst, dass Dinge, von denen immerzu gesagt wird, das klappt doch nie, dann doch funktionieren. Die Redaktion sitzt am Franz-Mehring-Platz in einem Haus, das auf seine Weise eine Baustelle geblieben ist – in seinem Herzen. Das ist ganz wörtlich gemeint. In dem Haus gibt es noch versteckte Reste einer alten Kantine, ein verwunschener Ort mit aufgerissenen Decken, alten Kühlräumen, zerschlagenen Fliesen. Gerade sind dort die Handwerker unterwegs. Es ist eben Berlin, meine Baustelle: Nichts bleibt, wie es war.

Photo taken at former canteen of “Neues Deutschland”, Friedrichshain, Sept 2016

© petrov ahner