Matthias Scheliga, Autor

Matthias Scheliga- Autor

Matthias Scheliga, Autor

Zwischenwelt

Ich habe Berlin noch nie als Stadt wahrgenommen, wie ein Lissaboner oder Pariser oder
Barcelonenser vielleicht seine Stadt wahrnimmt. Manche Bezirke kenne ich bis heute nicht. Berlin kommt mir vor wie ein Verweis auf Berlin. Eine schüchtern-anmaßende Reminiszenz. Ein von einem rasenden Jungen zertretener Ameisenhügel. Ein zerrauftes Haufendorf, eine Kartografie der Risse, möglicherweise der Riss an sich.

Es zerfällt in Orte und mühsam angeschlossene Nichtorte, die nichts verbindet als Straßen und Menschen, die in diesen Straßen gehen. Manche dieser Orte mag ich, weil ich sie mit einer Person oder einer Geschichte verbinde.

Das sowjetische Ehrenmal in Treptow ist so ein Ort. Ein Nichtort eigentlich. Eine Nekropole. 7000 Tote unter einer monströs-zuckrigen Glasur aus Stein und Bronze, bewacht von knieenden Soldaten mit Schnauzbärten und einem 12 Meter großen Offizier, der ein Kind auf dem Arm und ein Schwert in der Hand trägt.

Dieser Ort bildet die Klammer meines Lebens als Sohn eines Vaters. Eines schnauzbärtigen Vaters mit slawisch schläfrigen Augen, der die Heilserwartung des schlesisch-polnisch-katholischen Bergarbeiterkindes in eine naiv-trotzige, melancholisch-apokalyptische Kommunismustheorie hinübergerettet hatte und die rotverhangene Stille der Bobreker Beichtstühle in das Schweigen seiner einsamen nächtlichen Spaziergänge. Als Kind lief ich an seiner kräftigen, warmen Hand durch das gigantische Forum und lauschte seinen lustvollen Erzählungen vom richtigen Sterben. Vom richtigen Leben erzählte er nie.

Auf einem der Kalksteinreliefs ist ein Soldat dargestellt, der sich über das feindliche Maschinengewehr wirft, um seinen Kameraden den Weg freizusterben. So wollte ich leben – von einem Opfertod zum nächsten. So wollte ich sterben – vom Aufwachen ins richtige Leben bis zum Widerschein des Mündungsfeuers auf dem gelösten Gesicht. Fortwährend sterbend. Schnauzbärtiges Kind, das einen geretteten Jungen im Arm hält. Leben als unendlich gedehnter Moment des Sterbens. Pathos, Glorie, Opfer. Blattgoldenes Heiligenbildchen in der Brusttasche eines Zwischenweltlers.

Jahrzehnte später – ich lebte seit 16 Jahren in Berlin und hatte das Ehrenmal nie wieder aufgesucht – fühlte ich eines Nachts das Bedürfnis, meine Geliebte an eben diese Stelle zu führen. Ich stand mit ihr vor der inzwischen restaurierten und überraschend weißen
Bildplatte und versuchte zu erzählen. Von mir, von meinem Vater, von dem Vater in mir, von mir als Vater. Vom Sohn meines Vaters. Vom Großvater meiner Tochter. Von meiner Lust am Leben. Von meiner Sentimentalität und meinem ängstlichen Argwohn gegenüber dem Pathos von Ideen.

In den frühen Morgenstunden weckte uns ein Anruf: Das Gehirn meines Vaters hatte genau zu der Zeit, als ich der Geliebten vom Leben zu erzählen versucht hatte, zu bluten begonnen. Ich kam noch rechtzeitig, um dem sich vollends Entfernenden die Hand zu drücken.

Photo taken at “Sowjetisches Ehrenmal Treptow “, Treptower Park, July 2012

©  petrov ahner