Ina Weisse, Autorin & Journalistin

Ina Weisse, Autorin & Journalistin

Ina Weisse, Autorin & Journalistin

Ich war lange nicht mehr hier. Zehn Jahre vielleicht. Die Eiche, unter der ich sitze, war damals ein Bäumchen. Ich staune, wie groß sie in der Zwischenzeit geworden ist. Die Länge der Bäume ist sichtbar gewordene Zeit.

Das Denkmal hinter mir diente uns damals als Fußballtorwand. Wie im ZDF- Sportstudio hatte man drei Versuche, um durch eine der beiden Öffnungen in der Granitwand zu treffen. Ein paar Mal ist es mir tatsächlich gelungen, das Leder durch das Loch zu zirkeln. Ich trug dabei die gleichen silbernen Fußballschuhe wie auf dem Foto.

In meinem ersten Berliner Spätsommer und Herbst waren wir ständig hier auf der Wiese vor dem Kanzleramt, um zu dritt Fußball zu spielen. J. mein damaliger Freund und Vater meines Sohnes Benjamin, Benjamin und ich. Wir waren ganz frisch von München nach Berlin gekommen und unser Leben war komplett aus den Fugen. J und ich waren dabei, uns zu trennen.

Zuschauer konnten demnach eine ziemliche verzweifelte Kernfamilie bei ihrer Therapiestunde beobachten. Das gemeinsame Spiel war der Versuch, wieder zusammen zu finden. Die Leidenschaft trieb uns dazu, uns so rücksichtslos zu verhalten wie pubertierende Jugendliche. Schreiend jagten wir uns gegenseitig den Ball ab und erzeugten dabei jede Menge Wärmeenergie. Einmal fiel ich auf meine Faust und zog mir eine böse Rippenprellung zu. J. und ich hatten trotzdem das Gefühl, uns durch das Spiel wieder näher zu kommen. Benjamin genoss es, sich mit seinem Vater zu messen.

Was mich damals als Berlinneuling wirklich beeindruckte, war dieses Gefühl der Endlosigkeit, dass sich auf dem riesigen Feld einstellte. Unsere Rufe verloren sich unter dem weiten Himmel. Das Kanzleramt, von der Berliner Schnauze sofort in Waschmaschine umgetauft, war unwirklich nah. Im Hintergrund sieht man die Kuppel des Reichstags schimmern.

Schon immer hat sich die Macht mit Hilfe der leeren Räume inszeniert, mit denen sie ihre repräsentativen Gebäude umgibt und sie so umso eindringlicher zur Geltung bringt. Das Reizvolle am Berliner Regierungsbezirk aber ist, wie ungepflegt und vertrocknet der Rasen vor dem Kanzleramt da liegt. Im Gegensatz zur üblichen Haltung der Mächtigen, die sich von ihren Untertanen distanziert, ist die Botschaft an die Berliner eine ganz andere: Eine ziemliche Gleichgültigkeit, ja Wurstigkeit kommt zum Ausdruck, die aber gleichzeitig auch die Erlaubnis beinhaltet, den freien Raum nach Belieben mit Bedeutung zu füllen.

Berlin, die Stadt, die niemals ist, heißt in meiner kürzeren Version der berühmte Satz von Karl Scheffler: Berlin sei dazu verdammt, „immerfort zu werden und niemals zu sein“. Berlin, die Stadt der freien Räume, der Schmuddelecken, der Dunkelheit. Das Letzte, das Verlorene, das Unfertige, das ist es doch, was unsere Phantasie beflügelte. Das Neue, das Glatte, das Perfekte ist für andere Städte bestimmt. Und nichts, so glaubte ich, könne sich je daran ändern.

Aber irgendwann musste auch in Berlin die Vergangenheit der Gegenwart weichen, die Tiefe der Oberfläche und das Alter dem Neuen. Umso begeisterter nehme ich zur Kenntnis, dass ausgerechnet im Schatten der Macht eine Lücke gelassen wurde, bis heute. So wir wie damals mit dem Ball unserer verlorenen Liebe nachjagten, kann dieser vernachlässigte Platz in seiner ganzen Nutzlosigkeit zum Gegenstand ganz neuer Erfahrungen werden.

Photo taken at Reichstagswiese, May 2017

© petrov ahner