Steve Morell, Artist & Head of Pale Music Int.

Steve Morell-Steve Morell, Artist & Head of Pale Music Int.

Steve Morell, Artist & Head of Pale Music Int.

 

Kreative Vagabunden

Ich wollte nie Teil einer Jugendbewegung sein. Die Art, wie ich mein Label gründete, und wie ich meine Musik mache und schreibe war und ist genauso, wie man es eigentlich nicht machen sollte. Es ist wie eine Sucht, immer weitermachen zu wollen. Ich weiß, dass ich bestimmt einige Dinge heute anders machen müsste. Auf der anderen Seite finde ich, war es genau der richtige Weg, denn so wie ich hat es, glaube ich, noch keiner gemacht. In Berlin lebt man einfach nur in einer komplett anderen Realität. Einer Realität, die im Grunde an der so genannten normalen Realität vorbeilebt. Und was ist eigentlich normal? Normal ist doch eigentlich nur, was man selbst als Normalität bezeichnet und verinnerlicht, nicht, was einem als allgemeingültige Normalität auferlegt wird. Ich kann es zum Beispiel nicht als normal bezeichnen, vor 2 bis 3 Uhr nachts schlafen zu gehen, eher später, und in der Regel nicht mehr als vier bis fünf Stunden zu schlafen. Nur weil 80 Prozent einer nicht zu akzeptierenden, sich selbst demokratisch
nennenden Gesellschaftsform diese Punkte als normal bezeichnen, heißt dies noch lange nicht, dass es auch einer annehmbaren Normalität entspricht. Vielleicht leben diese 80 Prozent auch in einer falschen Realität??

Vielleicht wird diese Gesellschaftsform, welche sich als demokratisch bezeichnet, untergehen, wie vor ihr schon so einige andere. Wenn man in einer Stadt wie Berlin lebt, in der innerhalb der letzten achtzig Jahre dreimal Gesellschafts- und Staatsformen untergingen, macht man sich ab und an so seine Gedanken. So verhält es sich aber nicht nur mit Gesellschaftsformen, sondern definitiv auch mit Musikrichtungen. Also stellt man sich die Frage, ob die ca. 20 Prozent kreative Bevölkerung, Musiker, DJs, Tänzer, Maler, Schauspieler, Produzenten, Schriftsteller, Filmemacher, Fotografen, Promoter, Organisatoren oder einfach nur 24-Hour-Party-People, die positiv vakuumisiert ihrer eigenen Realität nachgehen, zwar ständig unter Zeitdruck, aber innerlich relaxt, zufrieden und eigentlich auch meist gut drauf sind, so falsch liegen? Ob die Normalität dieser kreativen Vagabunden, zu denen ich auch mich zähle, die sich wie neuzeitlich moderne Gypsies von Kontinent zu Kontinent, von Land zu Land, von Nacht zu Nacht, Song zu Song, oder einfach nur von Projekt zu Projekt bewegen, so falsch ist, kann man mit einer direkten Fragestellung nicht beantworten, da uns eine Antwort sowieso nur die Zeit geben kann. Man kann aber sicherlich sagen, dass dieser Prozentsatz im Wesentlichen seiner Natur viel entspannter ist und der mentale Horizont viel weiter ist als bei dem übrigen Teil der Bevölkerung.

Selbst in der Einsamkeit finden kreative Vagabunden ihre Befriedigung. Sie nutzen diese, um sie in Kreativität umzusetzen, um etwas entstehen zu lassen, was sich die andere Schicht der Bevölkerung dann visuell und auditiv injiziert, um Ausgleich von ihrem nicht-kreativen Alltag zu finden. So bewegen sich menschliche Individuen in klanglichen Tanztempeln, um ihrer Normalität und ihrer Realität zu entfliehen. Sie bezahlen die Tonträger, Filme oder Bücher, auf welchen die Träume, Visionen, Gedanken und Frustrationen derer verwirklicht sind, die sie im kreativen Vakuum erschaffen haben. Traurigkeit und Melancholie spiegeln sich selbst in den fröhlichsten Liedern wider und genauso umgekehrt. Die Menschen identifizieren sich mit lyrischen Texten welche von hämmernder Musik eindringlich untermalt werden und so kommt es nicht zu selten vor, dass diese kreativen Vagabunden zu Vorbildern der klassischen „Working Class Heroes“ werden, obwohl sie doch eigentlich versuchen sollten, ihr eigenes Vorbild zu werden.

Aber dies gelingt leider nur den wenigsten, selbst den kreativen Vagabunden oft nicht. Musik zu machen, zu veröffentlichen oder zu veranstalten hat eine extrem dunkle Seite, welche sich die meisten Konsumenten besser nicht anschauen, weil sie es dann mit Garantie nicht mehr so cool finden würden. Über all die Jahre, in denen ich mich in der Musik und mit dem Überleben von Musik bewege, kann ich eigentlich am Ende nur eins sagen: „Das Musikgeschäft ist ein schrecklicher und ungerechter Geldkrieg, in dem die coolen und guten Musiker nichts zu fressen haben und dir vor den Füßen wegsterben, während Möchtegerns, Abzocker und Arschkriecher gar nicht wissen, wie sie ihre link verdiente Kohle ausgeben sollen.“ Wie Tiere fallen sie über dich her, saugen dich aus und wollen alles von dir haben. Exklusivität, Rechte und dir noch sagen wie du deine Musik gestalten sollst. Aber Geben wollen sie dir dafür nichts.

Musik machen und zu schreiben heißt aber auch, sich und seiner Umgebung zuzuhören, den Texten und den Worten. Man hört die Musik, die einen umgibt und die man selbst erschafft, in seiner eigenen Realität oder Musik aus einer längst vergangenen Zeit, in der man sich widerspiegeln kann. Vor einiger Zeit fragten mich zwei gute Freunde, ob mir nicht auch manchmal die Lust vergeht, was mich weitertreibe und woher ich die Energie nehme, immer weiterzumachen, und ich antwortete ihnen: Es ist die Freiheit, die ich verspüre, im Ton gefangen zu sein, meine eigenen Gedanken in Melodien umzusetzen und die Freiheit zu haben, Musik veröffentlichen zu können, mit der ich mich identifizieren kann. Es ist die Sucht nach Leben, die einen immer weitermachen lässt.

Stellt sich zuallerletzt nur noch die eine Frage: Was werden wir in Zukunft tun? Werden wir so weitermachen? Werde auch ich irgendwann zu meiner eigenen Parodie wie schon so viele? Auf jeden Fall werden wir irgendwann den Löffel abgeben und sterben. Doch werden wir in dem, was wir kreiert haben, weiterleben. Und wenn sich wenigsten eine barmherzige Seele daran erinnert, was wir hier geschaffen haben und Jahre später immer noch Begeisterung dafür empfindet, dann hat es sich unser täglicher Kampf schon gelohnt.

Steve Morell, Berlin, April 2014
(Parts of the text are taken from the unreleased book
„Leidenschaft, Leere, Hoffnung“)

Photo taken at Urban Spree, Friedrichshain, March 2014

© petrov ahner