Manfred Carpentier, Autor, Fotograf & Galerist

Manfred Carpentier, Autor, Fotograf & Galerist

Manfred Carpentier, Autor, Fotograf & Galerist

Selfies

Was auffällt: nie war das Modeangebot massiver und aufdringlicher, die Wellen der
Stile kurzatmiger und die Etats der Vermarktungsstrategien gigantischer. Im Gegensatz
dazu zeigt das Straßenbild allerdings eine unverhohlene Uniformiertheit der
von der Modebranche suggerierten Individualität. In ähnlicher Weise hat sich die
postindustrielle Gesellschaft des Selbstporträts angenommen und aus ihm das Selfie
gemacht. Auch hier führt die angebliche, aber lediglich phantasierte Aufwertung
des Individums zur völligen Auslöschung individueller Züge. Um ein Bild zu gebrauchen:
die sich selbst Fotografierenden stehen mit dem Rücken zentimeterdicht am
Abgrund und treten noch einen Schritt zurück, um sich ins rechte Bild zu setzen.

Der Überlieferung zufolge war der Auslöser dieser ebolagleichen Infektion ein
australischer Jugendlicher, der wenigstens noch den Anstand besaß, sich für die
technische Qualität seines Tuns zu entschuldigen: »And sorry about the focus,
it was a selfie.« Den Rest besorgte eine ausschließlich an Quantität orientierte
Industrie innerhalb der sogenannten »Sozialen Netze« mit Hilfe der Tranfunzeln
des 21. Jahrhunderts: den Smartphones und Tablets. Die technologische Entwicklung,
die zugunsten eines Wachstumsfetisches von der evolutionären Schrittgeschwindigkeit
des Menschen abgekoppelt wurde, ist drauf und dran, die psychosozialen Grundbedürfnisse
des Menschen durch technische Schimären zu substituieren.

Das war einmal anders. Es begann mit der Fähigkeit, das sich in einer trüben Pfütze spiegelnde
Gesicht als das eigene zu erkennen und das Ich dahinter zu imaginieren. Dieses Ich
erreichte seine Befreiung mit dem Einsetzen der Aufklärung. Nicht erst durch das Aufkommen
der Fotografie wurde seine Auflösung in Masse und Unterschiedslosigkeit eingeläutet.
Bis zum Selfie aber war das Selbstportrait mehr als bloße Topographie in irgendeinem
Kontext. Es war vor allem Ausdruck innerer Empfindungen bei der Beantwortung
existentieller Fragen des nach Selbsterkenntnis suchenden Menschen und evozierte
beim Gegenüber eine teilnehmende Auseinandersetzung, und nicht bloße
Oberflächenwahrnehmung. Die aber transportiert das Selfie mit rasender Ausschließlichkeit.

Der Fotografierte kann die medienimmanent reduzierte Wahrnehmung auch gar
nicht verhindern und der Betrachter ist an tieferer Sicht nicht interessiert. Es bildet
sich ein widerstandslos hingenommener Tummelplatz für banalsten Narzissmus und
Voyeurismus. Folglich schwirren täglich Milliarden Selfies durch die von allem Sozialen
sterilisierten Netze, mit dem Ergebnis einer weltumspannenden, psychosozialen
Verwahrlosung. Denn wie lässt sich sonst erklären, wenn das eigene Wertgefühl von
willkürlichen Mausklicks oder Likes sogenannter »Freunde«, von denen man den
wenigsten einmal wirklich gegenüberstand, abhängig gemacht wird? Und nirgendwo
ist die Erkenntnis der Bedeutungslosigkeit niederschmetternder als da, wo das
Individuum versucht, der Trivialität der eigenen Person und seiner Lebensumstände
mittels eines Selfies zu entkommen.

manfred-carpentier.de

Photo taken at Galerie Carpentier, Charlottenburg-Wilmersdorf, June 2015

© petrov ahner