Klaus Lederer, Rechtsanwalt, Autor & Politiker

Klaus Lederer, Rechtsanwalt, Autor & Politiker

Klaus Lederer, Rechtsanwalt, Autor & Politiker

„Das Chaos ist aufgebraucht, es war die schönste Zeit!“ – dieser Satz zierte noch jahrelang die Wand eines flachen, grauen Neubaus in Berlin-Mitte. Beim Passieren fiel er mir jedes Mal ins Auge. Gemeint waren die Monate zwischen Herbst 1989 und Sommer 1990 in Ost-Berlin, nach dem Zusammenbruch der DDR. Die alten Machthaber herrschten nicht mehr und die neuen Machthaber noch nicht richtig.

Die Menschen eigneten sich die Stadt an, in herrenlosen Gebäuden, Hinterhöfen, auf freien Plätzen, Straßen. Ich erinnere mich einer Stimmung zwischen Besorgnis und Euphorie. Besorgnis, was kommen würde, Euphorie einer nie empfundenen Freiheit, die politisches Experiment, künstlerischen Pioniergeist, wissenschaftlich-kulturelle Offenheit, Neugier auf Zukunft bedeutete. Verwertung der Stadt, Druck des Marktes auf Freiräume, ökonomische Zurichtung des Alltags, all das war damals noch weit entfernt. Für einen Augenblick schien die Möglichkeit auf, an runden Tischen die Gesellschaft selbstbestimmt organisieren, die Verhältnisse zwischen Menschen als menschliche gestalten zu können, zum Ende des Kalten Krieges nicht nur mit der verbrecherischen Perversion einer zutiefst humanistischen Idee aufzuräumen, sondern auch neue Wege zu probieren, jenseits der schlichten Kopie der Westgesellschaft.

Ost-Berlin war grau. Aber das Leben war plötzlich bunt. Kaum Wochen später, die ersten freien Wahlen waren vorbei, demonstrierten wir gegen den Anschluss der DDR nach Art. 23 GG. Ob wir es schon ahnten oder nicht – wir waren naiv. Da war der Zug längst abgefahren. Was sich aber in diesen wilden Wochen entwickelte, prägte nicht nur den Osten der Stadt. Noch in den 1990er Jahren lebte Berlin Chaos und kreative Anarchie. Die eroberten Nischen und Freiräume boten Platz zur Selbstverwirklichung, die nicht die Selbstvermarktung bezweckte. Selbstverwaltung, soziales Miteinander, Kooperation jenseits der Verwertung. Da wurde ganz praktisch reklamiert: Eine andere Welt ist möglich.

Aber mit jedem Jahr wurden es weniger, verschwanden wilde Kneipen, besetzte Häuser, Wagenburgen, Clubs und kollektive Galerien und Ateliers. Viele Menschen verschwanden nach Jahrzehnten aus dem Kiez. Andere Menschen kamen. Sie machten ihren daraus. Heute sitze ich in meiner Stammkneipe, in der Rauchen und Lesen nicht verpönt sind. Mein Blick fällt auf das letzte unsanierte Haus auf der anderen Straßenseite. Auch der „Chaos“-Flachbau ist heute schick saniert, von Videokameras überwacht, der Satz getilgt. Dort residiert jetzt der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen.

Die Stadt ist uniformer, enger, langweiliger geworden. Für die herrschende Politik ist „Berlin“ eine Erfolgsgeschichte, gemessen etwa an Tourismuszahlen. Verdrängung und soziale Ausgrenzung erwähnt sie nur in Sonntagsreden. Sie organisiert die Flüchtlingsunterbringung in Turnhallen und Containern, sorgt sich um die Verfolgung von Kiffern oder den nächtlichen Alkoholverkauf. Soziale Not wird hierzulande als individuelle Probleme verstanden, nicht als gesellschaftliche Frage diskutiert. Die globale Krise ist subkutan spürbar. Nicht wie im Süden allpräsent; eher als allgemeine Verunsicherung. Und zunehmende Verunsicherung ruft kompensatorisch nach äußerer Ordnung und Sicherheit.

Wie sieht es hier in 25 Jahren aus? Die Erfahrung, dass sich Dinge ganz schnell ändern, dass statisch geglaubte gesellschaftliche Zustände ganz plötzlich in Bewegung geraten können, war sicherlich die wichtigste Erfahrung meiner Jugend. „Chaos“ als das Gegenteil von Ordnung: Horrorvorstellung für Viele. Vielleicht öffnet sich erneut ein Fenster für Möglichkeiten, vielleicht können wir es nutzen, weniger naiv, aber nicht weniger
freiheits- und selbstbestimmungssüchtig.

klauslederer.de

Photo taken at Marietta-Bar, Prenzlauer Berg, March 2015

© petrov ahner