Ein Gesamtberliner aus Westberlin
Als Kind in den 70er Jahre im Westteil Berlins aufgewachsen, lernte ich eine der absurdesten Situationen der Stadtgeschichte meiner Stadt als quasi Normalzustand kennen: Die Teilung Berlins in den – bis 1972 unerreichbaren – Ostteil und die drei Westsektoren, die eingemauert waren.
Jede Reise nach außerhalb wurde ein beschwerliches Abenteuer mit beschwerlichen Stunden Warterei an der Grenze. In Westberlin war es Pflicht, den grünen „Behelfsmäßigen Personalausweis“ mit sich zu führen, ohne dieses Papier kam man aus der Inselstadt nicht heraus.
Auch waren in Berlin die Verrücktheiten der Zeiten zu spüren: Obwohl ich das Lebensgefühl bis in die 80er Jahre dank Schüleraustausches nach Paris nur erahnen konnte, vieles im Nachhinein Besondere mir damals normal erschien, wusste ich schon sehr bald, dass ich kein „normaler Deutscher“, sondern ein „Berliner“ bin. So wie ein „New Yorker“ ja auch kein normaler Ami ist…
In meiner Stadt der Kindheit gab es alles Mögliche als Mikrokosmos: Aufgewachsen am Teufelsberg, konnte ich als Kind begeistert im Frühling Klettern und Fahrrad fahren, im Sommer im Teufelssee baden gehen, mit dem Rad an die Havel fahren, wo jeder Meter an der Havelchaussee mit Campingtischen, Grillgelegenheiten und Liegestühlen zugebaut war, so sehr stapelten sich die Berliner bei Sommerwetter nebeneinander. Im Herbst gab es Drachensteigen lassen auf dem Teufelsberg, im Winter Schlittenfahren und sogar einmal den Versuch, Ski zu fahren: Mit Schlepplift und Schneekanone waren Sprungschanzen und eine Ski-Abfahrt auf dem Teufelsberg eingerichtet worden.
Auf familiären Erzählungen und schlichter Beobachtung erfuhr ich bereits als Kind, dass der Teufelsberg als „Monte Klamotte“ aus Kriegstrümmern aufgeschüttet wurde. Dies erklärte mir die merkwürdige Stadtsituation, wenn wir dann mal zum Einkaufen in Richtung Zoo („in die Stadt“) fuhren: Aus Häusern auf dem Kurfürstendamm wuchsen teilweise Bäume aus den kriegsbeschädigten Fensterhöhlen der 3. Und 4. Etage, provisorische Gebäude prägten neben modernen Glaspalästen, Betonbauten und prachtvollen Gründerzeitfassaden (mit Einschusslöchern!) das Stadtbild…
Der Traum von urbaner Pracht erfüllte sich mir in der Bleibtreustraße. Der Albtraum urbanen Irrsinns fand sich ganz nahe an zu Hause: Die Betonburg der Angerburger Allee, weiter weg das (Märkische) „merkwürdige Viertel“.
Zu den Kontrasten passten meine Träume und Fluchtversuche in ein Leben im Stile der 20er Jahre: Joséphine Baker, Haus Vaterland, Delphi, Marlene Dietrich, UfA Palast am Zoo, Marmorhaus, Fritz Lang und Teddy Stauffer waren Namen, die mir als Zehnjähriger dank meiner Schellackplattensammelei bereits geläufig waren – und als Schüler begann schon die Spurensuche nach Künstlern, Orten und Anekdoten, immer mit Kreissäge oder Schiebermütze auf dem Kopf, Krawattenschal und Stoffhose samt Weste…
Die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts war immer in einem Straßenblock ablesbar – und ist es auch heute noch in vielen Teilen der Stadt.
In den letzten Jahren verschwinden hüben wie drüben allerdings immer mehr Spuren im Stadtbild, meine Plattensammlung erstreckt sich allerdings inzwischen auch bis zum Rhythm & Blues der 50er Jahre. Auch seit 25 Jahren ist es nicht mehr nur private Liebhaberei im stillen Kämmerlein, sondern mit Plattenspielern und Schellacks (manchmal auch „schummelnd“ mit digitalen Medien) bin ich europaweit und bis in die USA auf Swingfestivals und -tanzworkshops unterwegs, selber als Lindy Hopper und Balboa-Shuffler auf dem Dancefloor genauso wie hinter den Turntables.
Viele Gegenden Berlins sind „schön“ saniert worden (nicht nur Prenzlauer Berg), „mein“ Savignyplatz mit den vielen Trödlern, Pariser Flair in S-Bahn-Quelle und Cafés mit New-Wave-Szenegrößen und den ansässigen Kriegerwitwen und den alten Berliner Nutten und Kiffern ist inzwischen eine saubere, gediegene Stadtoase in Charlottenburg mit etablierten Boutiquen und gesetzten – in die Jahre gekommenen – hipster Familien geworden.
Inzwischen steige ich wenigstens nicht mehr Friedrichstraße automatisch aus der S-Bahn aus, wenn ich mal von Zoo kommend in Richtung Alexanderplatz unterwegs bin. Der Abriss des Lehrter Stadtbahnhofs hat die alten Gewohnheiten durchbrechen lassen, solange der noch in Betrieb war, hörte für mich gefühlt an der Friedrichstraße meine Welt auf, sogar noch 2001, wenn ich nicht aufpasste…
Meine Straße in Schöneberg zeigt vis-à-vis noch typisches Berlin: Die graue Stuckfassade der Polizei neben einem in den 20er Jahren modernisierten, im Stile der Sachlichkeit entstuckten Altbau mit expressionistem Klinkereingang und waagerechter Zierleiste zwischen den gelb getünchten Etagen. Daneben ein langweiliger fassadenloser grauer Altbau mit Apotheke und Filmfirma… Alles mit Kopfsteinplaster und den sogenannten „Heil-Hitler-Leuchten“, wie die Neon-Peitschenmaste der 60er Jahre im Fachjargon genannt werden.
Inzwischen bereut man in solchen kleinen Wohnstraßen die Umstellung von Gaslicht auf das kalte Neonlicht und versucht mit gelber Nachtbeleuchtung Schadensbegrenzung hinzubekommen. Dazu bimmelt immer wieder mal die 500 Meter entfernte Kirche und gibt dem Stadt-Wahn ab und zu ein dörfliches Ferienflair.
Alles ist nicht fertig, nichts ist abgeschlossen, es lebe das Provisorium! Genau wie in meiner Plattensammlung herrscht in der Stadt die permanente Fluktuation: Berlin ist wie meine Plattenregale, meine Musiksammlung ist wie Berlin: Mit Schwerpunkt Swing, aber auch mal über den Tellerrand hinausguckend, suche ich auch immer wieder nach Neuem.
Das Schönste aber ist: Auf meiner (aktuell nicht existierenden) Suchliste stehen noch etwa 200 Platten, die mich interessieren könnten. Am Sonnabend auf einem der vielen Trödelmärkte entdecke ich dann die zweihunderterste, von der ich bis dahin noch gar nichts wusste…
Photo taken at Stephan’s apartment, Schöneberg, August 2014
© petrov ahner